Hier finden Sie den vollständigen Artikel aus der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” vom 27. Mai 2023:
Kein Gedenken, niergends?
Das Massaker von Bleiburg war das größte Kriegsverbrechen in Europa nach dem 8. Mai 1945. Die Opfer waren vor allem Kroaten. Doch der Umgang damit spaltet die kroatische Gesellschaft bis heute.
Von Michael Martens, Zagreb
Bleiburg liegt im Süden des österreichischen Bundeslandes Kärnten und gehört mit weniger als 5000 Einwohnern wahrlich nicht zu den Orten, von denen man gehört haben muss. Dennoch ist der Name Bleiburg zumindest in Kroatien so geläufig, als sei die Kleinstadt nahe der Grenze zu Slowenien eine Millionenmetropole. Nach Wien ist Bleiburg vermutlich sogar der österreichische Ort, dessen Namen kroatische Medien am häufigsten nennen – zumindest jedes Jahr im Mai. Dann jährt sich nämlich seit mehr als sieben Dekaden das größte Verbrechen der europäischen Nachkriegsgeschichte.
Oft heißt es, der Völkermord von Srebrenica, bei dem Truppen unter Befehl des serbischen Kriegsverbrechers Ratko Mladić im Juli 1995 mehr als 7000 bosnische Muslime töteten, sei das größte Massaker in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen. Das trifft zu – allerdings nur dann, wenn man das Kriegsende in Europa nicht auf den Tag der deutschen Kapitulation am 8. Mai 1945 datiert. Denn der systematische Massenmord, dessen Geschichte am 15. Mai 1945 in Bleiburg begann und der sich über mehrere Wochen hinzog, übertrifft in seinen Ausmaßen das Geschehen von Srebrenica deutlich.
Während in Europa offiziell Frieden herrschte, wurden bei der „Tragödie von Bleiburg“, wie sie in Kroatien oft genannt wird, Zehntausende Wehrlose von den jugoslawischen Partisanen des Josip Broz („Tito“) ermordet und in Massengräbern in Slowenien sowie in Kroatien verscharrt. Hätte es damals schon ein internationales Kriegsverbrechertribunal für Jugoslawien gegeben, wie es später in Den Haag eingerichtet wurde, hätte Tito dort als Oberbefehlshaber der Täter und damit politisch Verantwortlicher für diese Verbrechen angeklagt werden müssen. Legt man die Rechtsprechung des Tribunals zugrunde, wäre er dabei zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden.
Doch 1945 galten andere Maßstäbe, zumindest für die Sieger des Zweiten Weltkrieges, zu denen Tito gehörte. Im Mai 1945 waren Zehntausende Kroaten sowie mehrere Tausend Slowenen, Serben und Montenegriner vor den Partisanen nach Kärnten geflüchtet, um sich dort den britischen Truppen zu ergeben. Unter den Flüchtlingen waren viele „Ustascha“ – Anhänger des kroatischen faschistischen Regimes, das zwischen 1941 und 1945 als Verbündeter der Deutschen um die 350.000 Menschen ermordet hatte.
Die Opfer der Ustascha waren vor allem Serben, Juden und Roma, aber auch kommunistisch gesinnte oder auf andere Weise politisch unliebsame Kroaten. Allein im kroatischen Konzentrationslager Jasenovac wurden laut weitgehendem Konsens der seriösen Forschung mehr als 80.000 Häftlinge getötet.
Unter jenen, die sich nach Bleiburg geflüchtet hatten, waren auch einstige Lageraufseher aus Jasenovac und andere Ustascha-Täter. Von den Briten erhofften sie Schutz vor der Rache der Partisanen. Doch die Briten, die sich mit ihrem damaligen Verbündeten Tito gut stellen wollten, schickten die Flüchtlinge, auch Frauen und Kinder, nach Jugoslawien zurück. Für viele war es ein Gang in den Tod, sie wurden ohne Gerichtsprozess hingerichtet. Genaue Zahlen liegen nicht vor, da die Täter im sozialistischen Jugoslawien fast ein halbes Jahrhundert lang Zeit hatten, ihre Spuren zu verwischen und jede Debatte über die Verbrechen zu unterdrücken. Dennoch hat sich in der Forschung in den vergangenen Jahren ein Konsens über die ungefähre Opferzahl herausgebildet.
Der nationalistische kroatische Historiker und spätere Staatspräsident Franjo Tudjman hatte 1989 noch von etwa 30.000 Getöteten geschrieben, die im Zuge der Bleiburger Tragödie umgekommen seien. Doch als er das schrieb, waren die Massengräber noch verschlossen. Inzwischen ist die Fachwelt einig, dass Tudjmans Zahl zu niedrig ist. Nach neuestem Stand der Forschung fielen mindestens 70.000 Menschen den Massentötungen vom Mai und Juni 1945 zum Opfer. Die Leichen wurden in Karsthöhlen geworfen, in Panzergräben verscharrt oder in aufgegebene Bergwerke gebracht und eingemauert. Erst nach dem Zerfall Jugoslawiens konnte in Slowenien und Kroatien offen über die Verbrechen gesprochen werden.
Zeugen wagten sich an die Öffentlichkeit, einige Täter erleichterten ihr Gewissen. Hunderte Massengräber wurden entdeckt. Auf die größte Schädelstätte des jugoslawischen Kommunismus stieß man im Jahr 1999 bei den Bauarbeiten für eine Autobahn in Tezno, einem Vorort von Maribor (Marburg). Allein in einem ehemaligen Panzergraben waren auf einer Länge von 70 Metern fast 1200 Menschen verscharrt worden. Insgesamt sollen die Massengräber unweit der zweitgrößten Stadt Sloweniens die Überreste von fast 15.000 Opfern bergen. Die meisten waren Kroaten.
Da es im sozialistischen Jugoslawien verboten war, Verbrechen der Partisanen auch nur zu erwähnen – geschweige denn, ihrer öffentlich zu gedenken –, wurde Bleiburg, wo die Tragödie ihren Ausgang nahm, schon in den Fünfzigerjahren zu einem Ort der Erinnerung, an dem zumindest die Emigration zusammenkommen konnte. Unproblematisch war dieses Gedenken allerdings von Beginn an nicht. Der 1953 offiziell gegründete „Bleiburger Ehrenzug“, der die Gedenkfeiern und den damit verbundenen Gottesdienst organisierte, war von ehemaligen Ustascha-Kämpfern geprägt, die selbst in die Verbrechen des faschistischen Regimes in Kroatien verstrickt waren.
Am Dienstag – Die Gegenwart: Noch immer halten die Kriegskinder das Binnenkollektiv Ost in ihrem Bann. Die jüngeren Generationen versuchen derweil, den Westen zum großen Buhmann zu machen.
Das ist bis heute die Krux an dem Gedenken: Alle Opfer von Bleiburg waren wehrlos – aber längst nicht alle waren unschuldig. Allen widerfuhr grausames Unrecht, denn ihnen hätte auch nach damaligem Recht eine Behandlung als Kriegsgefangene zugestanden. Dass viele der wehrlos Getöteten ihrerseits Wehrlose getötet hatten, rechtfertigt nicht ihre Ermordung, gehört aber zum historischen Kontext. Dieser Kontext wurde bei den Gedenkfeiern in Bleiburg oft ausgeblendet. Die Toten wurden als „Märtyrer für das Kroatentum“ verharmlost, als tadellose Widerstandskämpfer gegen den Kommunismus. Ihre Geschichte wurde erzählt, als habe sie erst 1945 begonnen. Am Rande der Veranstaltung wurden T-Shirts mit Porträts des kroatischen Faschistenführers Ante Pavelić und ähnliche Devotionalien des Rechtsextremismus verkauft.
Zwar war es unfair und ungenau, die Gedenkfeier in Südkärnten deshalb in ihrer Gesamtheit als „größtes Faschistentreffen Europas“ zu verunglimpfen, wie es einige Medien taten. Das wurde den vielen Familien nicht gerecht, die sich tatsächlich nur in stillem Gedenken an ihre ermordeten Angehörigen oder Vorfahren in Bleiburg einfanden. Eine rechtsradikale Instrumentalisierung des Treffens gab es aber durchaus – und die hat jenen Kräften geholfen, die am liebsten jegliches Gedenken an Bleiburg und andere Verbrechen von Titos Partisanen unterbinden möchten.
Der rechtsradikale Einschlag des Bleiburger Treffens hatte nämlich auch zur Folge, dass die zuständige Diözese Kärnten der Gedenkveranstaltung im Jahr 2019 ihren Segen verweigerte. Die Messe bei Bleiburg werde politisch instrumentalisiert und sei Teil „eines politisch-nationalen Rituals“, das einer selektiven Deutung der Geschichte diene, hieß es. Die Veranstaltung schade dem Ansehen der Kirche, könne gar die Unterstellung heraufbeschwören, die Diözese lasse „die entsprechende Distanz zu faschistischem Gedankengut vermissen“, so die Begründung.
In Kroatien jubelten Linke über den kirchlichen Querschuss gegen das „Faschistentreffen“. Die kroatische Bischofskonferenz warf den katholischen Brüdern in Kärnten dagegen „Respektlosigkeit gegenüber den Opfern“ vor. Das Außenministerium in Zagreb bezeichnete die Behauptung, in Bleiburg werde der Faschismus gefeiert, als „empörende Unterstellung“.
In Kroatien stehen sich viele Menschen bei Debatten über den Fall Bleiburg weiterhin in schroffer Unversöhnlichkeit gegenüber. Es stellt sich die Frage, wie das kleine Land umgehen soll mit der Erinnerung an das größte Massaker, das sich in Europa nach der deutschen Kapitulation ereignet hat. Die rechtsextreme Geschichtsklitterung ist nur eines der Probleme. Auch die Reaktionen des linken Spektrums werfen Fragen auf. Wenden sich bestimmte Kreise wirklich nur deshalb gegen ein Bleiburg-Gedenken, weil es in der Vergangenheit oft von rechtsextremen Verzerrungen und Verharmlosungen begleitet war? Oder wollen sie grundsätzlich nicht, dass an „linke“ Verbrechen der jugoslawischen Partisanen erinnert wird? Wollen sie verhindern, dass das Bild des strahlenden Partisanenhelden Tito mit dem Blut beschmiert wird, das in seinem Namen vergossen wurde? Wollen sie die Erinnerungen an die Verbrechen aus der Frühzeit von Titos Herrschaft aus der europäischen Gedächtniskultur heraushalten? Soll es heißen: Kein Gedenken, nirgends?
Der kroatische Schriftsteller und Kolumnist Miljenko Jergović, dessen politische Haltung sich schwer auf einen Nenner bringen lässt, der aber mit Sicherheit kein Rechter ist, unterscheidet im Gespräch zwischen den Ereignissen von 1945 und der Erinnerung daran. Was in Bleiburg und in Jugoslawien im Mai und Juni 1945 geschah, nennt er ein „Massenverbrechen“ und eine „schreckliche Rache“ der Partisanen. „Aber woran wird auf dem Bleiburger Feld selbst erinnert?“, fragt er und antwortet sich selbst: Seit den Fünfziger- und Sechzigerjahren hätten dort, mit freundlicher Duldung der österreichischen Behörden, Rechtsextremisten des faschistischen Ustascha-Regimes gedacht. Den Ausrichtern des Gedenkens sei es nie um historische Tatsachen gegangen. „Sie interessierten sich nie für die Wahrheit über Bleiburg, auch nicht für die Kolonnen, die vom Bleiburger Feld nach Jugoslawien zurückkehrten. Sie interessieren sich nicht für die Opfer, für ihre Zahl, auch nicht für die Orte und Umstände ihres Leidens.“ Stattdessen sei es ihnen darum gegangen, den Diktator Pavelić und seine Ustascha als gut, Tito und die Partisanen aber als böse darzustellen: „Bleiburg war weder vor noch nach 1990 ein Ort des Gedenkens an die Opfer.“
Zugleich verurteilt der bekannteste Schriftsteller Kroatiens die Versuche, das Verbrechen zu relativieren. Der frühere kroatische Präsident und vormalige jugoslawische Sozialist Stjepan Mesić hat zur Causa Bleiburg 2008 einen bis heute umstrittenen Satz gesagt: „Kein einziges Opfer im Konzentrationslager Jasenovac hatte Verantwortung für die Opfer in Bleiburg, allerdings waren viele Opfer von Bleiburg verantwortlich für die Opfer in Jasenovac.“ Dieser Satz habe ihm nie gefallen, sagt Jergović. „Auf etwas subtilere Weise rechtfertigt er ein Verbrechen mit einem anderen. Ich verstehe nicht, warum man das tun sollte.“
Martina Grahek Ravančić, Historikerin am kroatischen Institut für Geschichte in Zagreb, hat ein in Kroatien viel beachtetes Buch über das Blutvergießen von Bleiburg geschrieben. Es treffe zu, sagt sie, dass es in der Flüchtlingskolonne nach Österreich und dann in der Gefangenenkolonne auf dem Rückweg nach Jugoslawien viele gab, die sich an Verbrechen der Ustascha-Diktatur beteiligt hatten. Seriöse Historiker in Kroatien bezweifelten dies nicht. Doch hatten die Gefangenen auch nach damaligem Recht Anspruch auf ein Gerichtsverfahren. Stattdessen gab es Massenerschießungen. „Es war vielleicht nicht realistisch zu erwarten, dass alle vor Gericht gestellt werden, und es ist klar, dass jedes Kriegsende von Rache begleitet ist – aber der Zeitrahmen, die Opferzahl und die programmatische Umsetzung der Liquidationen in mehreren Etappen deuten darauf hin, dass es nicht nur um Rache ging.“
Tatsächlich sind die Beweise überwältigend, dass es sich bei „Bleiburg“ nicht um vereinzelte spontane Racheakte der Partisanen handelte, wie es später mitunter heruntergespielt wurde. Alles deutet vielmehr auf eine systematische, von oben angeordnete Menschenvernichtungsaktion der siegreichen Partisanen an ihren gefangenen Gegnern hin.
Eine sachliche Debatte darüber ist jedoch bis heute schwierig in Kroatien. „Weder die extreme Rechte noch die extreme Linke tragen zur Lösung dieses Problems bei. Keiner von ihnen interessiert sich wirklich für die Geschehnisse im Mai 1945, und mit ihrem Verhalten zeigen sie keinerlei menschlichen Respekt vor den Opfern“, sagt Grahek Ravančić. Für viele sei „Bleiburg“ nur ein politischer Raum zur Verteidigung ihrer Weltanschauung: „Sie sind fest davon überzeugt, dass nur sie das Monopol auf die Wahrheit haben und nur ihre Haltung richtig ist.“
Erschwert wird die Debatte dadurch, dass die Täter von Bleiburg nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Es gab kein Nürnberg für die Verbrechen des Kommunismus. Dabei hätte man einige Täter noch anklagen können, so Grahek Ravančić. Man wisse, welche militärischen Einheiten an den Verbrechen beteiligt waren, auch die Befehlskette sei bekannt. Dennoch musste keiner der Täter je Haft oder auch nur ein Verfahren fürchten. Bleiburg bleibt eine offene Wunde. Der Umgang mit dem größten Kriegsverbrechen in Europa nach dem 8. Mai 1945 spaltet die kroatische Gesellschaft bis heute.